Kamasutra


Das Kamasutra (Sanskrit: कामसूत्र, IAST: kāmasūtra; wörtlich Liebesfaden; häufig interpretiert als Leitfaden der Liebeskunst; etwas freier übersetzt als Verse des Verlangens), genannt auch Kamasutram, wurde vermutlich zwischen 200 und 300 n. Chr. von Vatsyayana Mallanaga verfasst, über dessen Leben keine weiteren Kenntnisse vorliegen. Der vollständige Titel lautet Vatsyayana Kamasutra. Das Werk gehört zur indischen Tradition der Lehrwerke über Erotik (Kamashastra). In der westlichen Rezeption beeindruckte das Werk vor allem durch Beschreibungen von Positionen beim Sex, es lehrt jedoch in vielen Differenzierungen den Umgang von Männern mit Frauen und umgekehrt – „wie vor 1800 Jahren“ von der ersten Annäherung bis zum Ende einer Beziehung.

Etymologie


Das Wort Kamasutra ist aus den Wörtern Kama und Sutra zusammengesetzt:



Kama zählt im Hinduismus zu den vier Lebenszielen des Menschen (purushartha). Die anderen drei Ziele sind



Vanamali Gunturu nennt als Reihenfolge der Bedeutung: Dharma, Artha, Kama und Moksha. Diese vier Werte bilden die vier Bereiche des Wissens oder der Wissenschaften, die śāstras des traditionellen Indiens. Bereits in der vorchristlichen Zeit wurden Lehrbücher verfasst, ebenfalls śāstras genannt. „In der Gattung der Kāmaśāstras, der Lehrbücher über die Sexualität, gibt es heute kein älteres als das Buch Vātsyāyanas.“

Autor und Zeitphase


Über Herkunft und Leben Vatsyayanas ist wenig bekannt. „Wahrscheinlich ist Vātsyāyana der Sippenname gotra und er hieß Mallanāga mit Vornamen. Inder haben ihn Muni, den 'Schweigsamen' genannt. Im Altertum gaben Inder bedeutenden Personen, für die sie Respekt empfanden und die sie verehrten, diesen Beinamen.“ Nach indischer Auffassung sprechen Menschen, die ernsthaft suchen, nicht viel oder schweigen gar um der Wahrheit willen. Vatsyayana lebte „wahrscheinlich zwischen dem 2. Jahrhundert v. Chr. und dem 5. Jahrhundert n. Chr. Er schrieb sein Werk zu einer Zeit, in der in Indien eine städtische Kultur entstanden war.“

Über sich selbst sagte er, „er habe das Kamasutra in strenger Enthaltsamkeit und höchster (meditativer) Konzentration geschrieben.“ Und er habe es „für den Fortbestand der Welt geschrieben und nicht für die blinde Leidenschaft. (VII. 2. 57).“

Yashodhara, der im 13. Jahrhundert einen Kommentar zum Kamasutra verfasste, gab an, Vatsyayana habe das Werk in der damaligen Stadt Pataliputra, dem heutigen Patna im Bundesstaat Bihar im Nordosten Indiens am Südufer des Ganges geschrieben.

Kultureller Hintergrund


Während europäische Autoren die Zeit der Abfassung des Kamasutra mit dem 3. Jahrhundert n. Chr. annehmen, datiert Gunturu vorsichtiger und legt die Entstehung in Gleichzeitigkeit mit der Blütezeit des Hellenismus bis hin zur Römischen Kaiserzeit. Im gesamten zeitlichen Rahmen existierten damit Fernhandelsbeziehungen mit dem mittelmeerisch-vorderasiatischen und dem indischen Raum über die Seeroute zum Roten Meer.

Gunturu charakterisiert die indische Gesellschaft:

„Der Staat wurde von einem König mit seinem bürokratischen Apparat geprägt. […] Die Gesellschaft war zu seiner Zeit durch Arbeitssteilung und Berufsauffassung so organisiert, dass die Menschen Freizeit hatten, die sie für die schönen Künste, für Musik, Theater, Malerei, Reisen, Ausflüge und Spaziergänge nutzten. […] Die wichtigen Religionen, der Hinduismus und der Buddhismus, hatten ihre Blütezeit bereits hinter sich; sie waren im Verfall begriffen: Die Menschen hatten der Religion gegenüber, wie es auch heute im Westen und in Indien üblich ist, eine weitgehend entspannte, pragmatische und aufgeklärte Haltung eingenommen. […] Zwar war damals Monogamie ein allseitig akzeptierter Wert, ja die Basis der Gesellschaft – […] aber Untreue scheint als Möglichkeit bei Männern und Frauen allgegenwärtig vorhanden gewesen zu sein.“„Der Staat wurde von einem König mit seinem bürokratischen Apparat geprägt. […] Die Gesellschaft war zu seiner Zeit durch Arbeitssteilung und Berufsauffassung so organisiert, dass die Menschen Freizeit hatten, die sie für die schönen Künste, für Musik, Theater, Malerei, Reisen, Ausflüge und Spaziergänge nutzten. […] Die wichtigen Religionen, der Hinduismus und der Buddhismus, hatten ihre Blütezeit bereits hinter sich; sie waren im Verfall begriffen: Die Menschen hatten der Religion gegenüber, wie es auch heute im Westen und in Indien üblich ist, eine weitgehend entspannte, pragmatische und aufgeklärte Haltung eingenommen. […] Zwar war damals Monogamie ein allseitig akzeptierter Wert, ja die Basis der Gesellschaft – […] aber Untreue scheint als Möglichkeit bei Männern und Frauen allgegenwärtig vorhanden gewesen zu sein.“

– V. Gunturu: Der Kamasutra-Ratgeber. S. 10.



Intentionen der Lehre


Für Vatsyayana fügen sich die Menschen nicht passiv ihrem Schicksal, dem Karma, sondern beeinflussen ihre Lebensumstände. Neben rationalen Methoden zählt auch die Magie zur Erfolgshilfe. Die heutige naturwissenschaftlich dominierte Einstellung, so Gunturu, spezialisiere und reduziere Sexualität auf abgesonderte Bereiche – „Vātsyāyana dagegen betrachtet die ganze Welt von der Warte der Sexualität aus. […] Umgekehrt beeinflusst jeder Lebensbereich die Sexualität. […] Daher ist es die erste Aufgabe des Kāmasūtra, die Komponenten zu benennen und zu erläutern, die die erotische Anziehungskraft eines Mannes und einer Frau ausmachen.“ Einen hohen Wert für Männer misst Vatsyayana „der Erzählkunst und der Sprache“ bei. Für beide die Deutung von Zeichen – wie Sie Signale gibt, einen Mann anblickt, wo oder wie sie steht, die Fähigkeit zur genauen Einschätzung ihrer Erfolgschancen – und „nicht nur darum, wie eine Frau den Mann in ihren Bann zieht, sondern auch darum, mit welchem psychologischen oder diplomatischen Geschick sie ihn wieder loswerden kann.“

„Vātsyāyana vertritt nicht die Ansicht, dass diese Komponenten, die die Persönlichkeit eines erotischen Menschen ausmachen, angeboren sind. Sie werden erworben, […] sind eine Sache des Wissens und des Könnens.“ Von Schönheit spricht er dabei selten, sie ist zu sehr eine Laune der Natur. Alle Künste und auch Körperstellungen sind der „Weg, wie dem Partner eine Freude zu machen ist. […] Wie Konflikte und Verletzungen mit Takt zu lösen oder zu vermeiden sind.“ Prostituierte sind in allem einbezogen – auch in den „Jahrhunderten danach war Prostitution kein Tabu in Indien.“

Vatsyayana „misst dem Kastensystem keine allzu große Bedeutung bei [… er] denkt nicht daran, das Sexualverhalten von Angehörigen verschiedener Kasten zu erwähnen.“ Philosophisch könnte Vatsyayana durch seinen Gegenwartsbezug dem Materialismus (Lokayata) nahe stehen, doch findet sich bei ihm keine Aussage zur Existenz Gottes, der Unsterblichkeit der Seele oder zur Wiedergeburt. „Er nimmt schlichtweg keine Stellung zu diesen metaphysischen Fragen.“ Ethisches Ansinnen ist ihm hingegen nicht fremd, so „bezeichnet er die sogenannte Liebesheirat, Gāndharvavivāha als die beste.“ Gängige Moral – auch seiner eigenen Zeit – ordnet er jedoch unter, etwa wenn er „der Kunst, verheiratete Frauen zu verführen, einen der sieben Hauptteile seines Werkes (widmet).“

Intentionen der Lehre


„Vātsyāyana stand bereits in einer langen Tradition der Sexualwissenschaften – um das 3. Jahrhundert n. Chr. […] (lag) ihre Blütezeit, mit der zugehörigen ‚Spezialisierung‘, [..] bereits zurück.“

Tradition


„Der Schöpfergott Brahma (war) der Verkünder aller Wissenschaften. Diese Grundannahme der indischen Tradition meint, dass alle Wissenschaften, auch der Sexualität, auf die Veden, also die ersten heiligen Schriften der Hindus, die der Überlieferung nach nicht von Menschen verfasst worden sind, zurückzuführen sind. Wie indische Forscher nachgewiesen haben, gibt es tatsächlich Stellen in den Veden, die den Geschlechtsverkehr beschreiben. Das bedeutet, dass die Ursprünge dieses Wissens bereits in den vorbewussten Zeiten liegen und sich dem Menschengedächtnis entziehen.“

– Vanamali Gunturu: Der Kamasutra-Ratgeber, 2004, S. 8.



Nandi, „wahrscheinlich eine mythische Figur“, verfasste über die Sexualität ein Werk mit 1000 Kapiteln, Śvetaketu fasste dieses in 500 Kapitel zusammen, das er Kamasastra nannte, Bhabhravya machte daraus ein Werk von 150 Kapiteln in sieben Teilen. Dieses letzte Werk bewirkte eine Phase der Spezialisierung anhand der sieben Teile, deren Bücher alle verloren gingen. Sie müssen jedoch noch bis ins 10. Jahrhundert bekannt gewesen sein.

Vatsyayana: „Cārāyana schrieb ein selbstständiges Werk über das Allgemeine, Survanābha über den Geschlechtsverkehr, Ghotakamukha über die Jungfrauen, Gonardīya über die Ehefrauen, Gonikāputra über die Frauen anderer Männer und Kucumāra über die Geheimmittel.“ Eingeleitet worden war diese Spezialisierung „vom Lehrmeister Dattaka, den die Prostituierten der Stadt Pātalīputra beauftragt hatten, aus dem sechsten Teil des Kāmasūtra über die Kurtisanen ein selbstständiges und ausführliches Werk zu verfassen.“ Er „zitiert in seinem Werk zuerst ihre Meinungen zu verschiedenen Fragen, bevor er seine eigenen Ansichten formuliert. […] Nachdem Bhābhravyas 150 Kapitel langes Werk zu verschiedenen eigenständigen Büchern verarbeitet worden war […], lief die originale Quelle Gefahr, verloren zu gehen. Um dies abzuwenden, fasste Vātsyāyana alle sieben nachträglich entstandenen Werke in einer kleineren Schrift zusammen und nannte sie Kāmasūtra.“

Die sieben selbstständigen Bücher waren:

  1. Buch – Charayana: Die Erotik und das gesellschaftliche Leben (Über das Allgemeine)
  2. Buch – Suvarnanabha: Die Liebestechniken (Über den Geschlechtsverkehr)
  3. Buch – Ghotakamukha: Die Jungfrauen (Über die Jungfrauen)
  4. Buch – Gonardiya: Ehefrauen und Rivalinnen (Über die Ehefrauen)
  5. Buch – Gonikaputra: Die Frauen anderer Männer (Über die Frauen anderer Männer)
  6. Buch – Dattaka: Die Kurtisanen (Über die Kurtisanen)
  7. Buch – Kuchumara: Ungewöhnliche und geheime Mittel zur Steigerung der Liebeskraft und der Sexualität (Über die geheimen Mittel)


Diese Autoren, die Vatsyayana als Lehrer oder Gelehrte bezeichnet, stellen für ihn auch die Traditionalisten dar: Es sind diejenigen, die eine andere, auch entgegengesetzte Meinung vertreten, es sind – im logischen und chronologischen Sinne – die Opponenten (purvapakshin).

„Vātsyāyana führte jedoch das Sexualwissen weiter und erweiterte die Grundlagen der Sexualität.“

Aus dem 13. Jahrhundert stammt der Kommentar (Jayamangala) des Yashodhara, der von seinem Guru den Namen Indrapada erhalten hatte. Dieser Kommentar übertrifft an Textlänge die des Kamasutra um ein Vielfaches.[10] Einen Kommentar in Hindi, der 1964 veröffentlicht wurde, verfasste Davadatte Shastri (1912–1982), der als moderner Traditionalist eine Verknüpfung von spiritueller Philosophie und Sozialwissenschaft herstellte.

Europäische Veröffentlichungen


In Europa erschien das Kamasutra erstmals im Jahr 1883 in einer Bearbeitung der Orientalisten Sir Richard Francis Burton und Forster Fitzgerald Arbuthnot. Die Übersetzung aus dem Sanskrit ins Englische hatten allerdings die beiden indischen Gelehrten Bhagavanlal Indrajit und Shivaram Parashuram Bhide besorgt, die ungenannt blieben. Burton übernahm hauptsächlich die Lektoratsarbeiten; Arbuthnot verfasste die Einleitung und das Vorwort. Das Verdienst der beiden Herausgeber bestand in dem Mut, die englische Zensur trickreich zu umgehen und das Werk in Europa zum ersten Mal zu veröffentlichen.

In Deutschland veröffentlichte Richard Schmidt im Jahr 1897 eine eigenständige und vollständige deutsche Übersetzung, die auch die Kommentare von Yashodhara umfasste. Die Ausgabe hatte mehrere Neuauflagen und gilt als beste europäische Übersetzung des Kamasutra. Klaus Mylius übersetzte das Kamasutra nochmals aus dem Sanskrit ins Deutsche, wobei er an Stelle der Kommentare von Yashodhara eigene Anmerkungen machte. Diese Ausgabe kam im Jahr 1987 in der DDR auf den Markt.

Im Jahr 2002 erschien in England eine kommentierte Neuübersetzung aus dem Sanskrit. Verantwortlich für diese Ausgabe zeichnen die Amerikanerin Wendy Doniger (Religionshistorikerin, Sanskritologin) und der Inder Sudhir Kakar (Psychoanalytiker, Muttersprachler in Hindi). Der englischen Ausgabe folgte die Übersetzung ins Deutsche, die Robin Cackett besorgte und die der Berliner Wagenbach-Verlag im Jahr 2004 veröffentlicht hat.

Kritik der europäischen Übersetzungen


In ihrer Zeit waren die ersten Übertragungen des Kamasutra gewagte Literatur, die in ihrer Rezeption jedoch – und schließlich als Weltliteratur – nicht nur erotische Werke (auch in der darstellenden Kunst) aus dem Vergessenen holten; generell wurde die indische Kultur auch im Lande selbst wieder bekannt. So gibt es in jüngerer Zeit auch indische Autoren, die das Original und die Übersetzungen des 19. und 20. Jahrhunderts einer Revision unterzogen. So wurden eine Vielzahl von Interpretationsfehlern im Sanskrit und auch kulturell-moralisch bedingte Missverständnisse thematisiert:

Schon Grundbegriffe gerieten in Kritik und mussten korrigiert werden:

„In diesem Licht ist es bemerkenswert, ja seltsam, wie einige Forscher das Wort ‚Dharma‘ im Kāmasūtra übersetzen. Wendy Doninger zum Beispiel übersetzt es mit ‚Religion‘ und Richard Schmidt mit ‚religiöse Verdienste‘. Der Ursprung dieser Auslegung bleibt im Dunkeln. Sollte ‚Dharma‘ ‚Religion‘ bedeuten, würde es keinen Sinn machen, ein weiteres Lebensziel, die Erlösung, Moksa zu postulieren, das ja im religiösen Bereich erlangt werden soll. […] Auch Alain Daniélous Übersetzung als ‚Tugend‘ ist unbefriedigend. Sanskrit-Wörter haben mehrere Bedeutungen, so auch Dharma“

– Vanamali Gunturu: Der Kamasutra-Ratgeber. 2004, S. 24.



Der indische Gelehrte Kane nennt als Bedeutungen für Dharma: „Privilegien und Pflichten, die einem Menschen auf Grund seines Alters und Standes zufallen“ oder „der normative Maßstab seines Verhaltens als Mitglied einer zivilisierten Gesellschaft“.

Doninger und Karkars legten dem Wort capāti – so Gunturu – die Bedeutung „indisches Brot“ und „ungefähr geformt wie das Pita-Brot“ bei: „Das Wort bedeutet einfach ‚Vagina‘.“

An Doninger wird auch kritisiert, dass sie das Kamasutra als „Drama“ gesehen habe – „eher als Fiktion denn als ernst zu nehmende Lehre“. Dabei übersieht sie, dass Dramen in der Zeit Vatsyayanas mit einem Prolog-Vers beginnen, das Kamasutra jedoch nicht.

Andererseits wurde Vatsyayana aufgrund der Beschreibung bestimmter Verhaltensweisen vorgeworfen, eine „Vergewaltigungsmentalität“ zu fördern, wobei übersehen wurde, dass der Autor schrieb, dass „Gewaltanwendung schmerzlich, unzivilisiert und prinzipiell nicht gutzuheißen sei (Sutra 25).“ Wenn sie dennoch einbezogen würde, so Vatsyayana: „Mit der Gewaltanwendung muss die Frau einverstanden sein. Geschieht sie gegen ihren Willen, soll sie es dem Mann doppelt heimzahlen.“

Kritik gegenwärtiger Auffassungen


„Zur Zeit sind im Westen zwei falsche Meinungen über das Kāmasūtra im Umlauf. Zum einen […] dass es im Kāmasūtra ausschließlich um akrobatische Körperstellungen beim Geschlechtsverkehr geht. Zum anderen […] dass es sich hierbei um tantrische Praktiken oder die Erweckung irgendeiner bestimmten Energie handelt. Denn aus unverständlichen Gründen hat sich, wider besseres Wissen, die Meinung etabliert, dass Tantra mit Sex zu tun hat – also zwei Vorurteile, die sich gegenseitig speisen.“

Inhalt


Die sieben Bücher des Kamasutra entsprechen den sieben Hauptbereichen der Sexualität der traditionell indischen, auf Babhravya zurückgehenden Lehre, dessen ursprünglich umfangreiches und „nicht einfach zu studierendes“ Werk von Vatsyayana „in einem kleinen Buch“ neu zusammengefasst wurde. In der Auslegung von Gunturu „(lässt sich) das gesamte heutige oder künftige Wissen von Sexualität und Erotik mit allen seinen Fragen […] dem einen oder anderen dieser sieben Hauptbereiche zuordnen.“

Erstes Buch: Allgemeiner Teil (Sadharana)


Der allgemeine Teil im ersten Buch – Das allgemeine Umfeld von Erotik und Sexualität – besteht aus fünf Kapiteln:



Im ersten Kapitel beschreibt Vatsyayana die Entwicklungsgeschichte und den Aufbau des Kamasutras (siehe den obigen Abschnitt ‚Tradition‘).



Zweites Buch: Über den Liebesgenuss (Samprayogika)


Das zweite Buch über den Liebesgenuss – Die Liebestechniken – umfasst zehn Kapitel: „Wie abwechslungsreich ein Liebesspiel sein kann, hängt vor allem mit der Phantasie, der Libido, der persönlichen Einstellung und Lebenssituation ab.“

Nach dem Erscheinen der englischen Übersetzung richtete sich das besondere Interesse auf das 6. Kapitel des zweiten Buches über Stellungen beim Geschlechtsverkehr. Dieses wird bis heute oft mit dem Kamasutra gleichgesetzt. Doch befasste sich auch die Phantasie der Künstler der vergangenen Jahrhunderte zumeist mit den Stellungsspielen.



Im ersten Kapitel klassifiziert Vatsyayana die „Sexorgane“ in Bezug auf die Größe des Penis und die Tiefe der Vagina mit drei Männer- und drei Frauentypen – Hase, Stier und Hengst sowie Gazelle, Stute und Elefantenkuh: „Der genussvollste Liebesakt ist der, bei dem der Mann und die Frau den Orgasmus gleichzeitig erreichen und der Penis die Scheide ganz füllt.“ Entsprechen sie sich nicht, beschreibt Vatsyayana die Komplikationen aus der Empfindungsweise der Frau. Die Klassifizierung der Liebenden beruhe zudem auf der Stärke der Leidenschaft. Er verwirft ältere Lehrmeinungen über den Orgasmus der Frau und betont, das trotz den körperbedingten Unterschieden im Sexualverhalten es „keinen Unterschied zwischen dem Wesen eines Mannes und einer Frau (gibt)“ und da sie „derselben Gattung angehören, erlangen sie den gleichen Liebesgenuss. Aber der Mann könnte als der Agierende der Frau ihren Orgasmus durch ein Fehlverhalten verderben. Das lässt sich jedoch leicht vermeiden, wenn er darauf bedacht ist, dass die Frau zuerst den Orgasmus erreicht.“



Drittes Buch: Über den Verkehr mit Mädchen (Kanyasamprayuktata)


Das dritte Buch über den Verkehr mit Mädchen – Die Jungfrauen – umfasst fünf Kapitel und legt zu Beginn die allgemeine Auffassung der alten Lehrmeister dar: „Im literarischen Gespräch, bei Gesellschaftsspielen, Eheschließungen und Beziehungen soll man seinesgleichen suchen – weder jemanden aus einer höheren Schicht, noch jemanden aus einer niederen. (III. 1. 20).“ Dies ermögliche eine vorschriftsmäßige Lebensführung nach definierten gesellschaftlichen Verhältnissen der Partner und den dazu erforderlichen persönlichen Eigenschaften. Vatsyayana setzt jedoch die Einzelmeinung eines 'Alten' hinzu: Ihm zufolge „soll jemand eine Frau heiraten, die für ihn die Lebenserfüllung bedeutet und die Ehe sollte von seinesgleichen nicht getadelt werden.“





Verschiedene Varianten zu den Umständen von Entführung – mit den jeweils gleichen Regeln der anfolgenden Hochzeit – zeigen an, dass zu Vatsyayanas Zeiten die Liebesheirat nicht die gesellschaftlich übliche Form der Eheschließung war – auf andere Formen geht er nicht ein –, doch offensichtlich in der Tendenz schon bevorzugt wurde und auch gegen gesellschaftliche Instanzen – Brauteltern und Priester – durchgesetzt werden konnte. Mit der Maßgabe, die Entführung so ein- bzw. auszufädeln, „dass die Verwandtschaft Ihnen das Mädchen nur deshalb übergibt, um der Familie Schande zu ersparen und um sich nicht wegen Racheaktionen der Strafverfolgung auszusetzen.“ Voraussetzung war für beide Seiten ein entsprechend starker Freundeskreis und die rituale Hilfe eines vedischen Brahmanen, aus dessen Haus das Feuer geholt werden konnte, um auch „den Vorschriften gemäß Opfer bringen“ zu können.

Vatsyayana zum Abschluss: „Da Liebe das Ziel aller Formen ist, schätzen die Menschen die Liebesheirat als heilbringend, obwohl sie die mittlere unter den Heiratsformen ist. Sie wird für die beste Form der Hochzeit gehalten, weil sie bequem und sorgenfrei ist, ohne formelle Zeremonien vonstatten geht und von gegenseitiger Zuneigung geprägt ist. (Sutra III. 5. 30).“

Viertes Buch: Über die verheirateten Frauen (Bharyadhikarika)


Vanamali Gunturu nennt das Vierte Buch nach Vatsyayanas Original Ehefrauen und Rivalinnen und dessen erstes Kapitel Die Verhaltensregeln für die Ehefrau ohne Rivalinnen. Die beiden altertümlich klingenden, überlangen deutschen Titel sind heute kaum mehr nachvollziehbare Übertragungen, die sich teils wie Kurzbeschreibungen lesen.[31] Die Übersetzung des zweiten Kapitels laut Original heißt Die Frau, ihre Rivalinnen und der Harem (Gunturu, S. 6.). Zum Vierten Buch verlässt der Autor Gunturu seine bisher gepflegte Methode der Darstellung, da die Thematik heutigen Lesern überholt erscheinen muss, weil die erörterten Szenerien keine Entsprechungen in der Gegenwart mehr besitzen. Da er 2004 seinen „Ratgeber“ verfasst hat, der den Menschen heute noch relevantes, als universell gültig eingeschätztes Wissen des indischen Altertums nahebringen will, historisiert er die Ausführungen Vatsyayanas: er kommentiert sie zudem unter dem Blickwinkel aktueller, fortschrittlicher Auffassungen.





Der Harem potenziert noch die Rivalitäten, da seiner Struktur „Königinnen […] gleich danach die wiederverheirateten Frauen und nach ihnen die Kurtisanen und Tänzerinnen (angehören).“ Dazu kommen des Königs „eigene Dienerinnen und die Dienerinnen der Haremsdamen, und melden, welche Frau an der Reihe ist, welche bereits bei ihm gewesen ist und welche die Monatsregel hat.“

Gunturu zitiert einen König: „Den Harem im Griff zu behalten ist schwieriger, als die Schlachtordnung eines feindlichen Heeres zu zerstreuen.“

Fünftes Buch: Über die fremden Frauen (Paradika)


Der fünfte Buch – nach dem Original: Die Frauen anderer Männer – behandelt in sechs Kapiteln, die hier in Klammern gesetzt auch die quellennahen Titel angezeigt haben, in umfangreichen, schlagwortartigen Aufzählungen alle Frauen, die nach den damaligen gesellschaftlichen Verhältnissen, verheiratete Frauen und keine „Jungfrauen“ mehr sind. Gemeint sind somit alle älteren Frauen über der damaligen Altersgrenze von 16 Jahren und sie sind von den „alten Lehrmeistern“ gleichsam zur Verführung freigegeben und die Männer dazu mit vielerlei Ratschlägen versehen. Es fällt in den ersten vier Kapiteln auf, dass sich Vatsyayana mit seinen sonst üblichen pointierten, oft gegensätzlichen Stellungnahmen fast völlig zurückhält, allenfalls anmerkt wie: „Verheiratete Frauen, [.. die] sich ja in einer heiklen Situation befinden.“ Und es bieten neben den spezifischen Eigenheiten historischer indischer Menschenbetrachtung die ‚Charakterisierungen‘ und Interpretationen männlicher und weiblicher Verhaltens- und Handlungsweisen heutigen Lesern wenig Erkenntnisgewinn. Sie würden gegebenenfalls eher als ärgerlich oder als Kuriosa empfunden. Erst mit dem Ende des sechsten Kapitels wird deutlich, warum Vatsyayana fast nur Lehrmeister dokumentiert und sich so bemerkenswert zurückhält. Gunturu arbeitet dies mit dem Abschluss des sechsten Kapitel heraus.





Haremsdamen haben auch ihre Söhne miteinander getauscht. Auch weitere Umgehungen und Tricks werden geschildert – und schließlich sieht sich Vatsyayana auch bemüßigt, an den Haremsbesitzer zu denken: „Lehrmeister meinen, dass man die Wächter auf ihre Ehrlichkeit in Sachen Sex hin prüfen und nur die Tadellosen, die Charakterfesten in den Dienst des Harems stellen soll.“ Und:

„Wenn jemand das Kāmaśāstra studiert hat und die darin ausgeführten Methoden zur Verführung verheirateter Frauen verstanden hat, lässt er sich niemals von den eigenen Frauen betrügen. Diese Methoden dienen einem einseitigen Interesse. Die Gefahren ihrer Anwendung sind leicht zu erkennen. Sie sind gegen die Moral und den Wohlstand. Daher soll man verheiratete Frauen nicht verführen. Diese Erläuterungen habe ich zum Schutz der Ehefrauen und für das Wohlergehen der Menschen gegeben. Ich habe sie nicht verfasst, um die Menschen unmoralisch werden zu lassen.“

– Vātsyāyana nach Gunturu: Der Kamasutra-Ratgeber. S. 209 f.



Mit dieser Meinungsäußerung entschlüsselt sich seine auffallend nachlässig und fast kommentarlos behandelte Thematik jeweils in den ersten vier Kapiteln.

Sechstes Buch: Über die Hetären (Vaisika) / Die Kurtisanen


Die Tendenz westlicher Übersetzer, Werke anderer Kulturen dem eigenen Denken anzupassen, das bis weit in das 20. Jahrhundert unreflektiert blieb, offenbart sich zum Beispiel an der Verwendung des Begriffs „Hetäre“ – eine Bezeichnung, die aus der griechischen und römischen Antike stammt. Meist unerkannte Schwierigkeiten bereitete diesen Übersetzern auch, dass Worte im Sanskrit verschiedene Bedeutung haben. Gunturu:

„Ohnehin hat jedes Sanskrit-Wort mehrere verschiedene Bedeutungen, und dazu jedes Wort in jeder Schule und in jedem philosophischen System in einer speziellen Tradition der Auslegung. So sind die Aphorismen nicht ohne weiteres zu verstehen, benötigen einen Kommentar, der sie aus der Tradition des Kāmaśāstra heraus erklärt. Der früheste Kommentar des Kamāsūtra, der uns erhalten geblieben ist, stammt aus dem 10. Jahrhundert und wurde von König Yaśodhara geschrieben. Er nannte seinen Kommentar ‚Jayamangala‘. Ohne diesen Kommentar wären die Gelehrten heute bei der Übersetzung des Kamāsūtra weitgehend hilflos.“

– Vanamali Gunturu: Kamasutra-Ratgeber, 2004, S. 12.



Die sechs Kapitel des sechsten Buches beschreiben die Beziehung von Kurtisanen zu Männern.





Siebtes Buch: Die Upanisad (Geheimlehre)


Das siebte Buch – Ungewöhnliche und esoterische Mittel zur Steigerung der Leidenschaft, Liebeskunst und Attraktivität[36] – behandelt in zwei Kapiteln nach älterer Darlegung als „Geheimlehre“: Praktiken, die mit Substanzen, physischen Eingriffen oder Verhaltensmanipulationen Sexpartner beeinflussen sollen.



Beide Kapitel des siebten Buches – Die Erhöhung der Anziehungskraft und Die Erweckung der Leidenschaft führen Mischungen zu Tinkturen, Salben, Pulvern, Sud und Trank an, die auf den Anrichtenden selbst oder für Partner zum Erzielen einer bestimmten Wirkung anzuwenden sind. Die Form der Zurichtung – etwa in einem Totenschädel – und vielerlei Zutaten: das Herz eines Mungos, Hyänenaugen oder gemahlene Kamelknochen; sowie eine Vielzahl von Pflanzen, deren Namen vor 2000 Jahren in Indien noch geläufig gewesen sein können, machen die Rezepte heute nicht mehr umsetzbar, auch nicht praktikabel. Die Absichten, die hinter den Anwendung standen, sind Potenzsteigerung, Ausdauer, Wecken von Begierde und Intensität. Nicht unbedeutend erscheinen dabei auch Absichten, dadurch jeweils Partner zu beherrschen. Die Penisvergrößerung und die Erweiterung enger Scheiden sind ebenfalls Thema. Auch auf das Denkvermögen und die Lebenserwartung zielen Mittel ab. Vieles setzt Vatsyayana in den Konjunktiv oder verweist auf Lehrmeister-Meinungen. Zum Abschluss des ersten Kapitels: „Sobald einem Methoden als zerstörend erscheinen, soll man sie nicht anwenden. Ebenso soll man solche Methoden vermeiden, die mit dem Töten von Lebewesen und mit unreinen Substanzen verbunden sind.“

Nur vereinzelt erwähnt Vatsyayana auch magische Handlungen: „Wenn ein Mann am Ende des Liebesaktes seinen Samen in der linken Hand auffängt und ihn mit dem linken Fuß der Frau in Berührung bringt, wird sie in seinen Bann geraten (Anangaranga, Kap. 7, Vers 20).“[Anm 8] Entsprechend, „dass die Berührung zwischen dem linken Fuß [der Frau] und dem Penis eine magische Wirkung erzeugt.“

Einem Fazit zu seinem Werk gleich schließt Vatsyayana: „Ein weiser Mensch soll die Moral, das Geld, die Sexualität und seine Überzeugung in Erwägung ziehen und nicht nur aus Leidenschaft handeln. Ich habe besondere Techniken (früherer Lehrbücher) zur Steigerung der Leidenschaft […] dargelegt. Ihre Anwendung enge ich hier streng ein […] damit durch dieses Buch den Menschen eine geordnete Lebensführung möglich ist. […] Ein Kenner dieses Lehrbuchs zügelt seine Triebe und schützt den eigentlichen Stand der Moral, des Reichtums und der Sexualität, der jeweils in dieser Welt gilt [… und] wird in seinen erotischen Absichten erfolgreich sein.“

Siebtes Buch: Die Upanisad (Geheimlehre)


Die Rezeptionsgeschichte weltweit setzt in der Neuzeit mit einer Erwähnung in einem von der University of Oxford 1864 herausgegebenen Katalog ein.

Altes Indien


Mit Vatsyayanas Kamasutra im 3. Jahrhundert n. Chr. „hatte das Sexualwissen im alten Indien den Höhepunkt erreicht, und so wurde es für die folgenden Generationen zur unumstrittenen Autorität auf dem Gebiet der Erotik. Indische Sexualforscher schrieben ihre Werke unter seinem Einfluss und huldigten ihm ausdrücklich.“ Neben dem Kommentator und König Yaśodhara (im 13. Jahrhundert) die Gelehrten Kakkoka im 12. Jahrhundert, Bhikshu Padmashri vor dem 13. Jahrhundert, Kalyanamalla im 15. Jahrhundert. Anklänge sieht Gunturu noch heute im „typischen Film […] des indischen Kinos“.

In Indien stellte Theodor Aufrechts Oxforder „Catalogus catalogorum 11 Handschriften des Kāmasūtra, davon 3 in Bibliotheken fest. Weitere 3 besaß die Staatsbibliothek Madras. Die älteste Handschrift stammt aus dem 17. Jahrhundert.“

1891 erscheint die erste gedruckte Ausgabe des Sanskrit-Textes in Bombay bei Nirnayasagara Press, herausgegeben von Pandit Durgaprasad.

Europa


Den europäischen Gelehrten wurde die Existenz des Kāmasūtra durch Theodor Aufrecht (1822–1907) bekannt, der es im Katalog der Bodleian Library (Oxford) nennt: Catalogi codicum manuscriptorum bibliothecae Bodleianae pars octava, codices Sanscriticas complectens, Oxon., 1864.

Ende der 1870er Jahre übersetzte ein indischer Gelehrter im Auftrag von Sir Richard Burton das Kamasutra in eine indische Volkssprache, die auch Burton beherrschte. Es folgte eine rege Beteiligung von weiteren europäischen Gelehrten an einer englischen Übersetzung, doch ließen sich die meisten verleugnen und es kam auch zu vielen Streitfragen. Schließlich veröffentlichte Burton seine Version 1883. 1885 folgte eine französische Übersetzung. 1897 die deutsche Übersetzung durch Richard Schmidt (1866–1939), die heftig umstritten blieb.:

Nationalsozialismus: „Bei der deutschen Bücherverbrennung wird die 1929 von Magnus Hirschfeld u. a. herausgegebene Übersetzung verbrannt, nicht wegen des Inhalts, sondern weil es ein „artfremdes Werk, herausgegeben von einem Juden“, nämlich Magnus Hirschfeld, ist. […] Diese Ausgabe wurde 1959 unverändert in Lindau am Bodensee (Bayern) neu aufgelegt und von der Kriminalpolizei im Auftrag der Staatsanwaltschaft in Kempten sofort beschlagnahmt. In die Begründung waren zum Teil die Argumente der nationalsozialistischen Bücherverbrenner übernommen worden.“ Der angeklagte Verleger konnte 1964 das Werk mit Hilfe der Sachverständigen frei bekommen, doch musste er im „strafrechtlichen Vergleich“ auf eine beabsichtigte Veröffentlichung „des ursprünglich als 2. Band gedachten ebenfalls klassischen indische Werks „Ananga Ranga“ verzichten, über das sich die Sachverständigen nicht einstimmig geeinigt hatten.“

„Seit den 1970er Jahren erscheinen zahlreiche Übersetzungen, Pseudoübersetzungen, Parodien und sonstige Bearbeitungen des Kāmasūtra, häufig üppig illustriert.“

– Alois Payer: Kamasutra. Leitfaden der Liebeskunst, 2007



Trivia (Auswahl)